Kinder und agile Produktentwicklung – Erkenntnisse einer Elternzeit

|

Wenn ihr Eltern seid, kennt ihr diese Nächte, in denen euer Nachwuchs nur dann zufrieden mit euch ist, wenn ihr ihn schaukelnderweise im Zimmer auf und ab tragt. Welche Ideen einem dabei kommen können und was das mit agiler Produktentwicklung zu tun hat, davon zeugt dieser Blog-Beitrag.

Unruhige Nächte

„Wuäääähhhhh! Wääähhh! Wäääääääääääääh …“ – Ich arbeite mich langsam aus meinem Tiefschlaf in eine Art Wachzustand. Es ist 5 Uhr. Das Baby schreit. Wieder! Genauer gesagt, zum dritten Mal in dieser Nacht. Ich drehe mich langsam zu meiner Frau um: „Essen?“ – „Nee, hat schon …“

Was ist dann?! Ich nehme unsere jetzt fast zwei Monate alte Tochter aus dem Bett und schaukele sie ein wenig. Es hilft nicht. Ich stehe auf und spaziere mit ihr durch die Wohnung. Es ist noch dunkel, ich bin totmüde und inzwischen etwas gereizt. Ohne Schlaf bin ich nicht ich selbst. Immer wieder flüstere ich der Kleinen ins Ohr „Was hast du denn?!“ – die Antwort ist ein immer lauter werdendes, gequältes und herzerschütterndes Schreien. Ich bin kurz davor einfach einzusteigen und ein Duett daraus zu machen. Ich frage mich, ob ich gerade wirklich darüber nachgedacht habe, aber hier kann nur noch Galgenhumor helfen …

Kinderzimmer mit Sessel, Kuscheltieren und Babybett
Kinderzimmer mit Sessel, Kuscheltieren und Babybett

Bis zum Ablegen des Babys im Bett kann oft sehr viel Zeit vergehen. Das Einzige was zu helfen scheint, ist geduldig durch die Wohnung zu spazieren und sie gleichmäßig zu schaukeln. Nach ca. 45 Minuten, die sich wie drei Stunden anfühlen, schläft sie ein. Gewonnen! Zumindest für den Moment. Ich lege sie in Zeitlupe, jede auch nur ansatzweise ruckartige Bewegung vermeidend, zurück ins Bett. Das „Ablegen“ dauert ca. drei Minuten und ist ein absolut kritischer Moment. Er kann die Arbeit der gesamten letzten 45 Minuten ruinieren. Diesmal bin ich erfolgreich. Ich werfe noch einen letzten Blick auf das kleine Wesen und muss dabei stehen bleiben – sie lächelt im Halbschlaf. Das macht sie immer, wenn sie einschläft. Ich setze mich noch einen Moment neben ihr Bett und beobachte sie dabei. Es macht mich absolut glücklich und stolz und ich vergesse in diesem Moment die schlaflose Nacht. So ein Baby kann einen verzaubern. Sie ist das alles wert! Das ist mein letzter Gedanke, bevor ich zurück ins Bett falle und sofort wieder einschlafe.

Ein MVP wird geboren

Warum können Babys bei der Geburt nicht schon sprechen? Wenn man wüsste was dem Baby fehlt, könnte man einfach reagieren und das Bedürfnis stillen. Wenn es laufen könnte, bräuchte man es auch nicht immer zu tragen …

Babyhand greift nach Hand eines Erwachsenen
Babyhand greift nach Hand eines Erwachsenen

Babys kommen „unfertig“ zur Welt, dadurch sind sie extrem anpassungsfähig – wie ein MVP.

Babys werden neun Monate lang im Bauch der Mutter „entwickelt“ und sobald sie überlebensfähig sind mit einem äußerst schmerzhaften „Livegang“ auf die Welt gebracht. Ein MVP wird geboren. Aber warum ist das so? Spricht nicht alles dafür, dass es schon mehr als nur das können sollte? Hätten wir nicht alle etwas davon?

Aber welche Sprache sollte es sprechen können? Mir fällt das erste komplexere Gegenargument ein … Welche Gestik und Mimik sollte es deuten können? Das ist durchaus kulturabhängig. So langsam fange ich an, den Sinn zu erkennen. Das Baby kommt absolut offen und anpassungsfähig zur Welt, bereit jede Bewegung, jedes Wort und jeden kulturellen Gebrauch zu lernen und zu verinnerlichen. Und wenn ich an das Lächeln und die tollen Momente denke, bringt es auch jetzt schon Wert in mein Leben.

Genauso ist es auch mit Produkten. Es tut mir als Produktmanager etwas weh, ein „unfertiges“ Produkt zu releasen. Ich würde es gerne schon mit allen Features und Lösungen für sämtliche Bedürfnisse ausstatten. Allerdings muss ich mir hier Ohnmacht eingestehen. Ich kenne noch nicht alle Bedürfnisse und Kontexte, in die das Produkt hineinwachsen muss. Vielleicht hätte ich ihm falsche Gewohnheiten für sein Umfeld beigebracht, oder die falsche Sprache – das wäre fatal. Außerdem bringt mir auch schon die erste Produktversion Wert ins Unternehmen.

Entwicklungszyklen = Sprints

Puuhhhh… wieder fast durchschlafen. In den nächsten Tagen bessern sich die Nächte und unsere Kleine wird immer pflegeleichter. Sie kann auch am Tag schon 30-60 Minuten alleine liegen, ohne anzufangen zu Schreien. Ich gewöhne mich dran. Das Anstrengendste muss überstanden sein …

Baby stützt sich auf
Baby in rotem Oberteil stützt sich auf

Babys durchlaufen Entwicklungszyklen – das erinnert an Sprints in der Produktentwicklung. Zwei Wochen später wird es plötzlich wieder unruhig. Sie wacht nachts wieder häufiger auf, lässt sich nur schwer beruhigen und möchte auch am Tag nicht mehr alleine liegen. Nach ein- bis zwei Tagen ist das jedoch wieder vorbei. Nur ein kurzes Phänomen? Ich greife zu unserem tollen Babyratgeber und finde ein Kapitel, das mich an die Arbeit erinnert: „Entwicklungszyklen“. Darin heißt es, dass Babys in relativ festen Abständen Entwicklungsschritte machen, bei denen sie für eine kurze Zeit sehr unruhig werden. Sie erlernen eine neue Fähigkeit (neue Laute, klareres Sehen, Koordination der Arme, etc.) und müssen dies zunächst selbst verarbeiten. Dabei suchen sie sehr stark die Nähe der Eltern, beruhigen sich allerdings nach wenigen Tagen wieder.

Fasziniert stelle ich auch hier wieder die Parallelen zur agilen Produktentwicklung her. Nach der Etablierung des MVP entwickeln wir Produkte kontinuierlich in zeitlich geschlossenen Sprints weiter. Dabei reagieren wir auf die Umwelt und konzentrieren uns im jeweils nächsten Sprint (in der Regel zwei Wochen) auf das Feature, das den größten Wert generiert. Am Ende eines jeden Sprints releasen wir dann das neue Feature und fügen es dem Produkt hinzu. Häufig wird es dabei zum Schluss auch etwas hektisch – Funktionen müssen getestet und finalisiert werden, das Sprintende rückt immer näher. Nach dem Release beruhigt sich die Lage dann wieder und wir fokussieren uns auf das nächste Feature.

Alle Möglichkeiten offen

Eine Kernerkenntnis dabei ist: Wir erklären dem Kind die Welt. Wir erklären der Welt nicht das Kind.

„Die Welt versteht unser Kind nicht“ oder „Unser Kind versteht die Welt nicht“ – beides sind Ansätze, die in den Köpfen von Eltern existieren. Produkte sollten immer nach zweitem Ansatz entwickelt werden. Das Produkt wird den Bedürfnissen der Zielgruppe entsprechend entwickelt und gestaltet. Es wird auf den jeweiligen Kontext der Nutzer zugeschnitten, indem sie es benutzen. Es ist fatal und banal, das Produkt zu verteidigen, wenn es nicht verstanden und angenommen wird. Doch genau das passiert häufig und der Mensch neigt dazu, seine eigenen Ideen und Werke zu verteidigen. Hier müssen wir gegen unser Ego arbeiten und uns von unseren eigenen Ideen und Überzeugungen lösen können, um erfolgreich zu sein.

In einer aktuell komplexen Welt ist kein Platz für „Fertiges“, aber viel Platz für „Ansätze“. In diesem Sinne wünsche ich allen Produktmanagern, Product Ownern und Entwicklungsteams da draußen viel Mut zu schreienden Kindern. Erklären wir Ihnen die Welt!

Kommentar hinzufügen